Methoden

Aktivierende Befragung

Die aktivierende Befragung ist eine Methode, die im Kontext der Gemeinwesenarbeit entwickelt wurde.

Sie stellt eine wirksame Vorgehensweise dar, um Bürger*innen miteinander in Kontakt zu bringen, damit diese ihre Interessen wahrnehmen und durchsetzen können.1

Die Methode im Überblick

  • Anleitung: selbständige Erarbeitung, praktisches Experimentieren, Schulung der Befragenden
  • Moderation: Teil der Methode
  • Setting: Befragenden-Gruppe, Formate der Stadtteilarbeit
  • Dauer, Zeitaufwand: hoher Aufwand, mehrschrittig
  • Anwendungsturnus: entsprechend der konkreten Projektplanung
  • Material: Gesprächsleitfaden, Fragebögen, Evaluationsbögen u. a.

Anwendungsbereiche und Ziele

  • Die Bewohner*innen eines Stadtteils werden zu ihren Anliegen befragt. Anschließend werden diese Anliegen in die Öffentlichkeit getragen. Das verhilft den Bewohner*innen dazu, Ressourcen für ihren Stadtteil zu erobern.
  • Die aktivierende Befragung schafft innerhalb eines Wohngebiets neue Netzwerke und soziales Kapital.

Kurzbeschreibung

Diese Methode zeigt immer wieder, wie viel Power in Menschen steckt und welche Ressourcen sie einbringen können. Je besser dabei der Draht der Fachkraft zu den befragten Bürger*innen ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese sich engagieren: Power is in the relationship! Das richtige Maß an Zurückhaltung vonseiten der Befragenden spielt ebenfalls eine wichtige Rolle: Eine Aktionsgruppe wird durch das das stark, was sie schafft, nicht durch das, was für sie getan wird.
Eine aktivierende Befragung braucht viel Zeit und eine Gruppe, die die Befragung trägt. Respekt gegenüber den Befragten, Neugier auf ihre Geschichten und Wertschätzung ihrer Anliegen sind ebenso unverzichtbare Voraussetzungen für diese Methode wie Durchhaltevermögen. Denn der Wert der Geschichten stellt sich manchmal erst viel später heraus. Ausschlaggebend ist immer, was die Bewohner*innen wollen, was sie beschäftigt und motiviert.
Ein guter Beginn, um sich schon im Vorfeld auf den Stadtteil und seine Menschen einzustimmen, ist es, sich einen soliden Informationsstand über das Gebiet zu verschaffen, in dem man eine aktivierende Befragung durchführen will. Zudem sollte bedacht werden, dass die Ergebnisse auf kommunalpolitischer Ebene unter Umständen Ärger hervorrufen können. Darum sollte dafür gesorgt werden, dass genügend Geld und Manpower für die Folgen der Befragung zur Verfügung stehen.
Der eigentliche Prozess lässt sich dann in acht Phasen einteilen.1

Schritt-für-Schritt-Anleitung

Phase 1 – Formulierung des Vorhabens

Im Fokus der aktivierenden Befragung steht, was die Bewohner*innen beschäftigt, und nicht, was die Befragenden wissen oder tun wollen. Folglich ist das Ergebnis offen, und das ist von den Befragenden gegebenenfalls mit den eigenen Vorgesetzten auch abzuklären. Im Mittelpunkt der Phase 1 steht die Selbstvergewisserung der Befragendengruppe:

  • Was wollen wir?
  • Warum in diesem Stadtteil?
  • Welche Ziele verfolgen wir mit einer aktivierenden Befragung?
  • Wer ist Auftraggeber?
  • Gibt es konfligierende oder versteckte Interessen?
  • Sind wir uns in Bezug auf Ziel und Weg einig?
  • Wie kann die aus der Befragung resultierende Aktivierung dauerhaft unterstützt und die entstehenden Aktivitäten finanziert werden?2

Phase 2 – Voruntersuchung

Nachdem die Gruppe geklärt hat, was sie zu der aktivierenden Befragung motiviert, geht es nun darum, die eigenen Hypothesen, also die selbst mitgebrachten Problemdefinitionen oder auch Vorurteile zu überprüfen. Das geschieht durch das Kennenlernen des Stadtteils und seiner Bewohner. Spaziergänge durch einen Stadtteil, eine Erforschung derselben Straßenzüge per Auto, per Rad oder mithilfe der öffentlichen Verkehrsmittel führen durchaus »verschiedene« Stadtteile vor Augen.
Fußgänger*innen sehen etwas anderes als Radfahrer*innen. Einkäufe, Wartesituationen an Bushaltestellen, Kneipenbesuche, Gespräche auf Parkbänken mit Bürger*innen und Bürgern, der Besuch eines Pfarrfestes, einer Gemeindeverwaltung oder einer Schule beziehungsweise eines Kindergartens können genutzt werden, um bestimmte Themen anzusprechen und die eigenen Vorstellungen vom Stadtteil zu prüfen.

Daneben sollte man sich mit Datenmaterial über den Stadtteil beschäftigen, das von außen kommt. Folgende Fragen sollen beantwortet werden:

  • Wie wirkt der Stadtteil durch Bebauung, Straßen, Gewerbe, Verkehrsdichte, Grünflächen? Wo treffen sich die Menschen? Was gibt es an Infrastruktur (Cafés, Gaststätten, Geschäfte, Ärzte, Kitas etc.)?
  • Wer wohnt in dem Stadtteil wo? Ältere Bürger*innen, Wohngeld-/ALG II-Empfänger*innen, junge Familien, Alleinerziehende, Migrant*innen? In welcher Häufigkeit finden wir bestimmte Bevölkerungsgruppen vor? Diese Fragen können meist die statistischen Abteilungen von Stadtverwaltungen beantworten.
  • Wie wird in dem Stadtteil über den Stadtteil gedacht? Wie denken andere über den Stadtteil? Was sind »heiße« Themen? Worüber empören sich die Menschen? Oder aber, welche Themen werden resigniert und hoffnungslos besprochen?
  • Wer ist wichtig im Stadtteil? Wer repräsentiert Vereine, Kirchen, Politik oder auch nur bestimmte Gruppen oder Milieus in bestimmten Straßenzügen? Diese Fragen können in der Regel nur die Bürger*innen selbst beantworten oder bestimmte Expert*innen, die viel im Stadtteil zu tun haben beziehungsweise selbst dort wohnen.

Phase 3 – Bewertung, Entscheidung und Konsequenzen

Die Auswertung der Voruntersuchung schafft erste Klarheiten in Bezug auf das Aktivierungspotenzial in der Bürgerschaft des Stadtteils. Wie groß ist vermutlich der Veränderungsdruck? Oder ist eher der Eindruck entstanden, dass die Bewohner resigniert haben? Die Voruntersuchung kann aber auch zu Konsequenzen bezüglich des räumlichen Zuschnitts der Region führen, in der die aktivierende Befragung durchgeführt werden soll. Sie kann zu einer Einschränkung oder Verschiebung des Befragungsgebietes führen, je nachdem wo die Voruntersuchung konfliktträchtige Themen und aktivierungsbereite Bürger entdeckt hat.
In Phase 3 ist zu klären, ob das Potenzial an Veränderungswillen für eine Aktivierung ausreicht und eine aktivierende Befragung überhaupt aktivierende Effekte haben kann. Wenn diese Frage nicht positiv zu beantworten ist, wird das Befragungsprojekt hier abgebrochen oder in seiner Zielsetzung zusammen mit den Auftraggebern verändert.

Phase 4 – Training der Befrager*innen

Damit die aktivierende Befragung nicht auf nur wenigen Schultern liegt, kann es sinnvoll sein, sich »externe Hilfekräfte« zu organisieren, zum Beispiel von Organisationen, mit denen in anderen Zusammenhängen kooperiert wird. Die Gruppe der »Externen« darf aber nicht zu groß sein, denn in der Befragung entstehen persönliche Kontakte, die für die Arbeit nach der Befragung wichtig sind.
Jeder Befragende muss seine Rolle in der Befragung klar vor Augen haben. Es geht darum herauszubekommen, was die Bürger*innen beschäftigt. Deswegen werden »offene Fragen« geübt und das Zurückhalten der eigenen Einschätzungen. Wenn man einen Fragebogen mit offenen Fragen einsetzt, dürfen sich die Befragenden daran nicht festhalten. Bei der befragten Person entsteht sonst der Eindruck, dass es eigentlich nicht um sie geht.
Wichtig ist auch das Üben der Dokumentation. Empfehlenswert ist das Festhalten von O-Tönen. Sie können bei späteren Gelegenheiten (Versammlungen, Interviews, Berichte) exemplarisch genannt werden und wirken direkt und authentisch.

Checkliste

  • Entwicklung des Gesprächsleitfadens
  • Ist den Befragenden ihre Rolle klar? Sind sie offen und neugierig?
  • Wie werden die Bewohner*innen ausgewählt?
  • Welche Fachleute und Funktionsträger werden befragt?
  • Wer ist für welche Straßen zuständig?
  • Entwicklung eines Dokumentationsrasters
  • offene Gesprächsführung trainieren
  • Umgehen mit kritischen Gesprächssituationen

Phase 5 – Hauptuntersuchung

Als Expert*in für einen Stadtteil befragt zu werden, tut Bürger*innen gut. Trotzdem ist eine Befragung Vertrauenssache. Was wird mit dem, was da gesagt wird, getan? Hilfreich ist hier erstens, wenn die Bewohner*innen des Stadtteils über die Ziele durch einen Presseartikel und ein Flugblatt in ihren Briefkästen vorinformiert sind. Ein Ausweis oder ein Schreiben des Trägers, der von den Befragenden gezeigt wird, kann ebenfalls Unsicherheiten verringern. In der Regel sollten zehn Prozent der Haushalte eines Stadtteils in ein bis drei Wochen befragt werden. Am Ende des Gesprächs werden die Befragten zu einer Versammlung eingeladen, bei der über die Ergebnisse informiert wird. Der Zeitpunkt – genauso wie der Ort – sollte schon feststehen und nicht mehr als drei Wochen später liegen, damit die Befragung und vor allem die Themen, die sie geweckt hat, noch präsent sind.
Eine aktivierende Befragung ist eine anstrengende Sache. Es hilft, wenn man im Duo arbeitet (die eine fragt, die andere notiert) und wenn es Orte gibt, wo sich die Befragenden zu vereinbarten Zeiten treffen können, um sich auszutauschen. Über das Erfahrene berichten können tut gut.

Checkliste

  • Ort und Termin der Versammlung. Erfahrene Befragende wissen, dass der Zeitpunkt nicht mit Fußballübertragungen und Ähnlichem kollidieren sollte.
  • Presseartikel zeitlich gut platzieren
  • Flugblätter oder Türhänger anfertigen und austeilen
  • Treffpunkt und Treffzeiten vereinbaren

Phase 6 – Auswertung

Die Beobachtungen und Protokolle müssen zeitnah ausgewertet werden, damit der Eindruck noch frisch ist und bis zur Versammlung nur kurze Zeit verstreicht. Die Auswertung kann über Schlüsselbegriffe sortiert (Verkehrssituation, Freizeitmöglichkeiten, Sicherheit …) und in der Folge konkretisiert werden (Sicherheit: Strecke vom Sportplatz zur Bushaltestelle, Angsträume für Kinder nach dem Training …).
Stehen der Befragenden-Gruppe Räume zur Verfügung, macht die Visualisierung der Ergebnisse Sinn. Wo eine ganze Gruppe darauf sehen kann, da entstehen Diskussion und gemeinsame Suche nach präzisen Formulierungen und übersichtlichen Darstellungen. Effektive Befragende haben zu diesem Zeitpunkt schon Bürger*innen kennengelernt, die bei der Auswertung und später bei der Versammlung mithelfen und, wenn nötig, weitere Freund*innen ins Boot holen.

Phase 7 – Versammlung und Aktionsgruppen

Der persönliche Draht, der während der Befragung entstanden ist, hilft, Bürger*innen für die angekündigte Veranstaltung zu gewinnen.

Weiterhin sind ausschlaggebend:

  • ein bekannter Ort, der nicht zu weit entfernt liegt und für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen akzeptabel ist
  • Werbung über Plakate, Einladungen per Telefon oder Hausbesuch
  • ein Veranstaltungszelt als Reklame und Treffpunkt im Stadtteil aufbauen.

In der Versammlung sollen die Bewohner*innen den Ton angeben.

Die Fachkräfte agieren nach Möglichkeit im Hintergrund, aber sie tun alles, um die Bürger*innen beim Erreichen ihrer Ziele zu unterstützen, indem sie:

  • vorher Bürger*innen gewinnen, die einzelne Ergebnisse und Schlussfolgerungen darstellen, mit ihnen eventuell ihren Redebeitrag üben und sie bestärken
  • eine*n talentierte*n Bewohner*in für die Moderation suchen und ihr während der Versammlung den Rücken stärken
  • weder in Überzahl auftauchen noch in Grüppchen zusammensitzen oder den Prozess kommentieren
  • sich verteilen und so weit zurückziehen, dass die Bürger*innen die Mehrheit ausmachen
  • das Protokoll führen
  • stadtbekannte Politik-Profis, zum Beispiel Kommunalpolitiker*innen, die gerne das Ruder in die Hand nehmen, bremsend betreuen

Unterstützung geben kann auch bedeuten, die Ergebnisse der Befragung und der Diskussion im Prozess gut sichtbar zu präsentieren oder zu dokumentieren. Alles in allem: Die Fachkräfte verstehen sich als Dienstleister im Aktivierungsprozess. Sie tun nur da etwas, wo die Teilnehmenden an ihre Grenzen kommen.
Ein Ziel der Versammlung ist die Bildung von Aktionsgruppen. Die Versammlung muss genügend Raum lassen, dass sich bei bestimmten Themen interessierte Anwesende zusammenfinden, Adressen austauschen und einen ersten Termin und Ort verabreden können. Einiges davon lässt sich schon im Vorfeld planen, wenn die bei der Versammlung aktive Bürger*innengruppe jeweils die »Betreuung« eines Themas übernimmt und sich Orts- und Terminvorschläge ausdenkt.

Phase 8 – Beratung und Begleitung der entstandenen Gruppen

Aktionsgruppen bleiben am Ball, wenn die Leute den Eindruck haben: »Es bewegt sich was! Die Arbeit lohnt sich!« Ein erster Pressebericht, Brief oder Antrag, der Resonanz auf die Arbeit der Gruppe in der Politik erzeugt, kann dieses Gefühl stärken. Die Fachkräfte helfen so viel wie nötig, aber auch so wenig wie möglich. Sie beraten, stellen Wissen zur Verfügung, machen Mut und unterstützen im Servicebereich (Protokoll, Briefkopf der Gruppe, Teilnehmendenliste, Einladungsschreiben). Dieses organisatorische Gerüst macht nach innen und außen deutlich, dass sich eine Aktionsgruppe auf den Weg macht.

Checkliste

  • Welche Ziele haben die Bewohner*innen? Sind die Ziele erreichbar? Wie kann man unnötige Frustrationserfahrungen bei unrealistischen Vorhaben vermeiden?
  • verhindern, dass Bewohner*innen vorschnell ausgebremst werden und die derzeitige Realität als gegeben und unveränderlich hinnehmen
  • Wie ist die Gruppe zusammengesetzt? Gibt es eine aktive Kerngruppe und daneben weitere unterstützende Personen?
    Wer vertritt die Gruppe nach außen?
  • Welche Aktions- und Arbeitsformen sind angemessen?
  • Kontrakt zwischen Gruppe und Fachkraft: Was ist die Aufgabe der Fachkräfte?
  • Was sollen sie tun, wie lange, und was nicht?

Weiterführende Links und Literatur

  • Aktivierende Befragung. In: Wegweiser Bürgergesellschaft, Stiftung Mitarbeit (Herausgeber) https://www.buergergesellschaft.de/praxishilfen/aktivierende-befragung [Abruf 27.3.2023]
  • Richard und Hephzibah Hauser (1971), Die kommende Gesellschaft. Handbuch für soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit. München, J. Pfeiffer.
  • Fragebogenschemata für Fachleutebefragung und Betroffenenbefragung sind dargestellt in Wolfang Hinte und Fritz Karas (1989), Studienbuch Gruppen- und Gemeinwesenarbeit: eine Einführung für Ausbildung und Praxis. München, Luchterhand, S. 56ff.
  1. Alf Seippel (1976): Aktivierende Gemeinwesenarbeit. Gelnhausen: Burckhardthaus-Verlag, S. 157ff.
  2. Die Fragestellungen, die in den jeweiligen Phasen relevant sind, wurden zum Teil entnommen aus: Maria Lüttringhaus/Hille Richers (2010), Arbeitshilfen für Selbsthilfe- und Bürgerinitiativen. Bonn, Verlag Stiftung Mitarbeit, S. 76ff. In dem Handbuch sind außerdem Arbeitsmaterialien wie Checklisten, Befragungsleitfäden, Dokumentationsbögen, ausführliche Tipps für das Vorgehen sowie Praxisbeispiele enthalten.

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