Methoden

Familienrat

In einem »Familienrat« erarbeitet das soziale Netzwerk einer Person realisierbare Ansätze zur Lösung eines gravierenden Problems.

Dahinter steht die Vorstellung, dass Familien- und Angehörigenkreise einer betroffenen Person oft bessere und passendere Lösungen finden können, als dies den Expert*innen im klassischen Hilfeplanverfahren möglich ist.

Die Methode im Überblick

  • Anleitung: selbstständig erlernbar
  • Moderation: zur Vorbereitung erforderlich
  • Setting: Anwendung in der Gruppe (Familie, Freunde, Nachbarn, weitere wichtige Personen, Professionelle)
  • Dauer, Zeitaufwand: Durchführung 4 – 6 Stunden, Vorbereitung 15 – 20 Stunden
  • Anwendungsturnus: situations- und problembezogen
  • Material: geeigneter Raum, verfügbares oder zu schaffendes Familien-Netzwerk

Anwendungsbereiche und Ziele

  • Methode zur Lösung eines gravierenden Problems
  • Erweiterung des familiären Unterstützer*innen-Kreises
  • Vermeidung von »Expertenlastigkeit« in der Hilfeplanung und deren Orientierung auf professionelle Dienste und Hilfestrukturen

Kurzbeschreibung

»Der Familienrat realisiert in radikaler Form Rechte und Verantwortlichkeiten von Betroffenen in Hilfeplanungsverfahren, um beobachtbaren Kolonialisierungstendenzen durch Experten und Verwaltungen entgegenzuwirken.
Das in Neuseeland entwickelte Verfahren der Lösungsplanung (Family Group Conferencing) im Jugendgerichtsbereich und in den Erziehungshilfen beruht auf der Erfahrung, dass klassische Hilfeplanungsverfahren wegen ihrer Expertenlastigkeit zu oft zu Ergebnissen führen, die besser zu den Hilfsorganisationen und Fachkräften passen als zu den Betroffenen. Stattdessen geht der Familienrat vom Grundsatz aus, dass Familien in den allermeisten Fällen durchaus selbst imstande sind, Lösungen zu entwickeln, vorausgesetzt es gelingt dem Hilfesystem, die folgenden Rahmenbedingungen zu realisieren: Die am Prozess beteiligte Familiengruppe – Verwandte, Freunde, Bekannte, Nachbarn – ist genügend groß. Das bedeutet, es müssen genügend Leute aus dem Netzwerk der direkt Betroffenen für den Familienrat mobilisieren werden können. Mitunter ist dieses Netzwerk auch eigens für den Familienrat neu auszubauen.
Der Problemlösungskultur der Familiengruppe wird ausreichend Raum gegeben. Teilnehmende, Ort, Zeit, Dauer und Ablauf des Familienrates werden von der Familie bestimmt, die so das Verfahren und den daraus resultierenden Plan ›in Besitz nimmt‹ (ownership). Die Fachkräfte dürfen bei der Lösungsentwicklung selbst nicht mitwirken, ja nicht einmal dabei sein (»Lösungsabstinenz der Fachkräfte«). Sie haben lediglich die Funktion, klar die Fakten darzustellen, die ihnen Sorge bereiten, und die Konsequenzen aufzuzeigen, die zu erwarten sind, wenn sich nichts ändert. Sie dürfen sich aber nicht dazu äußern, wie die Schwierigkeiten zu lösen sind.«1

Schritt-für-Schritt-Anleitung

Die Lösungsplanung mittels Familienrat gliedert sich in drei Abschnitte: A – Vorbereitung, B – Familienrat und C – Evaluation. Im eigentlichen Familienrat sind meist zehn Phasen zu unterscheiden.

A – Vorbereitung der Familie und der am Familienrat teilnehmenden Professionellen

B – Familienrat

  1. Begrüßungs- und Eingangsphase mit Familienritual, eventuell ein gemeinsames Essen.
  2. Die Koordinatorin stellt noch einmal kurz die Prinzipien des Familienrats dar.
  3. Die fallzuständige Sozialarbeiterin trägt die Sorge des Amtes vor; die übrigen anwesenden Fachkräfte, zum Beispiel ein Lehrer oder Arzt, berichten ihren Sachstand.
  4. Die Koordinatorin stellt einen Konsens aller Anwesenden her, dass ein zu lösendes Problem vorliegt.
  5. Die Fachkräfte stellen weitere Informationen bereit, die hilfreich für einen Lösungsplan sein können und beantworten Nachfragen.
  6. Die Koordinatorin formuliert den Auftrag für die Familie.
  7. Exklusive Familienzeit: Die Fachkräfte verlassen den Raum und die Familiengruppe berät ihren Plan.
  8. Wenn sie fertig ist, holt die Familiengruppe diejenigen Fachkräfte zurück, die für den weiteren Verlauf des Familienrats wichtig sind, und stellt ihren Lösungsplan vor.
  9. Diskussion des Plans. Eventuell findet eine weitere exklusive Familienzeit statt, wenn nach Überzeugung der fallzuständigen Sozialarbeiterin bestimmte Aspekte noch nicht gelöst sind.
  10. Konkretisierung und schriftliche Formulierung des Plans: Wer ist wofür zuständig? Wie wird kontrolliert, ob der Plan funktioniert? Wann wird evaluiert?

C – Ein zweiter Familienrat evaluiert die erzielten Ergebnisse.

Diese Darstellung vermittelt den Eindruck, dass der wesentliche Aufwand der Familienrat selbst ist. Doch dieser Eindruck täuscht. Der Familienrat selbst dauert circa 4 bis 6 Stunden. Die Vorbereitung der Teilnehmergruppe ist aufwändiger. Für die Vorbereitung der Familie und ihrer Freunde müssen in der Regel 15 bis 25 Arbeitsstunden investiert werden.

Fallbeispiel

»Eine Familie als ›Pflegenetzwerk‹
Frau M., 35 Jahre, alleinerziehende Mutter zweier Töchter, kennt die psychiatrische Klinik von innen und von außen, und das im Vierteljahresrhythmus. Nach einem Selbstmordversuch und dreimonatigem Klinikaufenthalt wurde sie nach Hause entlassen. Seitdem lebt sie mit einer spezifischen Medikamentierung, die ihr ermöglicht, ihre Kinder und den Haushalt zu versorgen. Frau M. leidet darunter, Medikamente nehmen zu müssen. Sie erinnern sie daran, dass sie nicht fit ist. Frau M. will aber fit sein. Wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wird, dann dauert es zwar einige Zeit, bis sie und ihre Kinder den gemeinsamen Alltagsrhythmus zurückgewonnen haben. In dem Maße aber, wie ihr das gelingt, wächst die Hoffnung, auf die Medikamente verzichten zu können.
Frau M. medikamentiert sich dann nach Gefühl, je nachdem, wie gut ihr und den Kindern der Tag gelingt. Damit wird ein Prozess in Gang gesetzt, den die Frau in der Konsequenz nicht beherrscht. Der nächste Psychiatrieaufenthalt ist vorprogrammiert. Die Töchter müssen dann wieder untergebracht werden. Das Jugendamt vermerkt diesen ›Drehtürprozess‹ zum fünften Mal. Eine permanente Fremdplatzierung wird zum Wohle der Kinder erwogen.
Mit Hilfe eines Familienrates gelingt es der Familie jedoch, diesen Teufelskreis zu unterbrechen. Eine wesentliche Rolle spielen dabei Frau M.s Eltern, ihre zwei Schwestern und deren Ehemänner, der Lieblingsonkel von Frau M. und ein Oberarzt der psychiatrischen Klinik. Die Koordinatorin begrüßt die Anwesenden und erklärt die Spielregeln des Familienrates. Dann trägt die zuständige Mitarbeiterin des ASD der Familie vor, warum sich das Jugendamt Sorgen macht: Die Mädchen möchten mit ihrer Mutter leben. Der Verlust der Eigensteuerungsfähigkeit Frau M.s und wechselnde Heimaufenthalte, die jeweils mit Verlassen des gewohnten Alltags in Schule und Freizeit verbunden sind, belasten die Mädchen aber sehr. Wie kann die Familie die Kinder und ihre Mutter unterstützen?
Der Facharzt als Informant erklärt der Familie, woran Frau M. erkrankt ist, wie die Medikamente wirken und welche Effekte eine nicht kontinuierliche Einnahme der Medikamente hat. Er macht deutlich, dass die Krankheit im Prinzip außerhalb der Psychiatrie beherrschbar ist, wenn man die Warnzeichen für eine Verschlechterung richtig lesen kann und wenn man die Medikamente zuverlässig nimmt. Das macht der Familie Hoffnung.
In der ›Familienzeit‹ entwickelt die Familie die folgende, bis heute tragende Lösung: Der Onkel kontrolliert zweimal pro Woche, ob die Medikamente im Kühlschrank von Frau M. wie verordnet weniger werden. Er meldet sich alle vier Wochen telefonisch beim Sozialdienst der Klinik und berichtet. Die Mutter von Frau M. wird von der psychiatrischen Klinik trainiert, frühe Warnzeichen einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes ihrer Tochter zu erkennen. Sie verbringt zwei Tage pro Woche mit ihr und den Enkelinnen. Anfangs wöchentlich, dann 14-tägig, schließlich alle vier Wochen trifft die Mutter den Oberarzt und bespricht ihre Beobachtungen. Dieser garantiert, für sie erreichbar zu sein, wenn sie etwas erlebt, was sie verunsichert. Frau M. meldet sich an jedem Monatsbeginn im Jugendamt und berichtet, ›ob alles klappt‹.«2

  1. Frank Früchtel, Wolfgang Budde, Gudrun Cyprian: Sozialer Raum und Soziale Arbeit, Fieldbook: Methoden und Techniken, Springer Fachmedien Wiesbaden 2013, S. 30–33
  2. ebd.

Weiterführende Links und Literatur

  • Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Zweiter Band. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt 1982
  • Wolfgang Budde, Frank Früchtel: Familienrat. In: sozialraum.de (1) Ausgabe 2/2009. https://www.sozialraum.de/familienrat.php, [Abruf 20.9.2022]

HBR / SIR